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Marie-Sabine Roger
Das Labyrinth der Wörter
Ein Frauenroman
Erscheinungsdatum Erstausgabe : 16.02.2010
Aktuelle Ausgabe : 01.04.2011
Verlag : dtv
Flexibler Einband: 224 Seiten
Das Leben hat es nicht sehr gut gemeint mit Germaine: Seine Mutter hatte ihn weder geplant noch gewollt, und das schlug sich im Umgang der Alleinerziehenden mit ihrem einzigen Sprössling nieder. Germaine hatte auch so seine Probleme mit dem Denken: Er war darin nicht so schnell wie die anderen, und schon bald hat er es entmutigt aufgegeben. Schwierige Worte bereiten ihm Unbehagen, und er ist mehr oder minder Analphabet.
Germaine hat sich schon damit abgefunden, als Trottel durch die Welt zu gehen, doch dann trifft er im Park auf eine kleine alte Dame namens Magueritte. Die beiden kommen ins Gespräch, erst zögerlich, dann jedoch immer wieder und immer intensiver, und es prallen Welten aufeinander. Magueritte ist feinsinnig und gebildet, und dieses unbeschriebene Blatt von Mann gefällt ihr gut. Sie beschließt, ihm ein wenig Kultur nahe zu bringen.
Bücher - vom Feind zum Freund
Germaine ist erst ein wenig misstrauisch - wer ist die kleine alte Lady, die auf seiner Bank sitzt und seine Tauben beobachtet? Aber Magueritte gefällt ihm sehr; sie ist ganz anders als seine schreckliche Mutter. Und irgendwie ist es faszinierend, dass sie immer ein Buch dabei hat.
Schließlich beginnt Magueritte, Germaine etwas vorzulesen. Es ist eine krasse Geschichte, ein bisschen ekelig, aber sehr eindrucksvoll mit den Bildern, die in Germaines Kopf entstehen, während er Magueritte zuhört. Er versteht, was der Autor zu sagen versuchte - und so wird das erste Buch, dem Germaine jemals etwas abgewinnen konnte, ausgerechnet Camus' "Die Pest".
Es bleibt nicht bei dieser einen Lektüre - doch dann schenkt Magueritte Germaine ein Wörterbuch, und all sein Elend fällt ihm wieder ein. Er kann nämlich nichts damit anfangen.
Eine neue Welt
Ein Wörterbuch hilft denjenigen, die wissen, wie ein Wort geschrieben wird. Zumindest in etwa. Und Germaine hat davon nun wirklich gar keine Ahnung. Er weiß ja nicht einmal genau, in welcher Reihenfolge das Alphabet aufgesagt wird.
Scham und Trauer brechen sich Bahn, als er Magueritte von seinem Dilemma erzählt, und die kleine alte Dame ist ganz erschrocken: Das hat sie nicht gewusst. Aber unverdrossen macht sie sich daran, ihrem Freund die Welt der Worte zu erschließen, bringt ihm geduldig das Alphabet bei, schreibt ihm die schwierigen Worte auf, erklärt, beruhigt. Und langsam, ganz langsam kommen in Germaines Kopf Dinge in Bewegung, brechen starre Blockaden auf, nimmt die Welt einen anderen Ausdruck an. Germaine beginnt zu denken, und es macht ihm Spaß.
Er selbst, seine Umwelt und seine Freunde beobachten verblüfft, was für eine Wandlung mit ihm vorgeht. Germaine lässt den Trottel seiner ersten fünfundvierzig Lebensjahre weit hinter sich.
Die schlichte Stimme
2010 verfilmt mit Gisèle Casadesus und Gérard Depardieu. Foto: Concorde |
Die Geschichte von Germaine und Magueritte ist aus Sicht des Mannes erzählt, und entsprechend ist der Stil gehalten. Es gibt erst einmal nur wenige komplizierte Wendungen, und wann immer ein etwas schwierigeres Wort zu finden ist, steht dahinter die Bedeutung aus dem Wörterbuch - Germaine lernt schließlich, und das mit großem Eifer.
Ob der Protagonist nun wütend ist auf einen seiner Freunde, der alle immer ärgern muss, oder ob er leicht verwirrt das Wunder der Liebe entdeckt, wo er vorher nur das Wunder des Sex kannte, oder ob er feststellt, dass er der kleinen alten Dame eine gewisse Zärtlichkeit entgegen bringt und sie gern als Oma adoptieren möchte - all das ist mit klaren Worten dargelegt, wunderschön in all ihrer Schlichtheit, und in der leisen Entwicklung, die sie durchlaufen, spannend wie ein Abenteuerroman.
Personen zum Kennenlernen
Germaine selber, der ja auf der Schattenseite des Lebens aufgewachsen ist und nach fast einem halben Jahrhundert einen Neustart wagt, wird schnell zu einem Freund des Lesers. Allein die Tatsache, dass dieser vom Schicksal wenig begünstigte Mann trotz aller Repressalien zu einem ausgerspochen netten Menschen geworden ist, sorgt für Sympathien. Und Magueritte ist eine reizende, intelligente alte Dame, wie man sie sich netter nicht wünschen könnte.
Germaines Mutter ist zwar ein ziemlicher Besen, aber auch sie tritt klar aus den Seiten hervor, genau wie die Freunde ihres Sohnes. Einer ist dabei, den man andauernd schütteln möchte, und mit einem der Paare fiebert man quasi mit, weil nicht sicher ist, ob es für sie ein Happy End geben kann oder nicht.
Ein kurzweiliger, wunderschöner Roman über das Leben, die Liebe und das Abenteuer des Denkens.
"Dieses Buch gibt uns die Lust am Lesen zurück." Magazine Culturissimo.
"Ein Roman voller Menschlichkeit, warmherzig und tief bewegend." La Marseillaise