Ursula März
Tante Martl
Zeitgeschichte / Biografie
Ein faszinierendes Frauenleben in Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder
Tante Martl ist scheinbar unscheinbar, in Wahrheit aber ganz besonders. Der Leser spürt es gleich an der Art, wie sie ihre Telefonanrufe eröffnet: mit einem Stöhnen, dem ein unerwarteter Satz folgt. Geboren als dritte Tochter eines Vaters, der nur Söhne wollte, ist Martl die ungeliebte Jüngste, die keinen Mann findet, dafür aber einen Beruf als Volksschullehrerin. Nie verlässt sie die westpfälzische Kleinstadt, in der sie geboren wurde, ja nicht einmal ihr Elternhaus. Und obwohl sie ihren Vater jahrelang pflegt, während ihre Schwestern Familien gründen, bewahrt sie ihre Selbstständigkeit. Wie Tante Martl das schafft und in hohem Alter noch einen großen Fernsehauftritt bekommt, erzählt Ursula März mit staunender Empathie und widerständigem Humor.
Handlung:
Martin steht als Name in der Geburtsurkunde seines dritten Kindes. Werner wollte immer einen Jungen, jetzt hat es endlich geklappt. Nur, dass der Junge ein Mädchen ist, was er, der Vater schlicht leugnet und nicht wahrhaben möchte. Erst auf heftiges Betreiben seiner resoluten Gattin geht er schließlich gesenkten Hauptes zum Standesamt und lässt den Namen in Martina ändern. Das alles geschah im westpfälzischen Zweibrücken im Jahr 1925. Martina, die fortan nur noch Martl genannt wird, wächst als kleinere Schwester von Barbara und Rosemarie auf, und schnell wird klar, dass sie eine besondere Position in der Familie bekommt; der Vater bevorzugt die beiden Anderen, vor allem Rosemarie, die erst Rössche, später dann Rosa gerufen wird.
Ärger und Ungerechtigkeiten muss die Kleine weit häufiger ertragen und auch vor Züchtigungen bleibt sie nicht verschont. „Die habbe e Bub aus mir gemacht, aber isch war doch gar ke Bub“, wird sie im hohen Alter erzählen, als diese möglicherweise prägende frühe Episode ihres Lebens aus ihr herausdrängt. Der sie all dies berichtet, ist ihre Nichte Ursula, zu der sie als Patentante zeitlebens ein sehr inniges Verhältnis hatte. Und diese Ursula ist die Autorin des Romans Tante Martl, Ursula März.
Die bekannte Literaturkritikerin und Feuilletonistin, die unter anderem auch als Jurorin beim Klagenfurter Bachmannwettbewerb war, nennt in ihrem Romandebüt Ross und Reiter. In einem Interview sagte sie, sie wollte die Menschen ihres Buches namentlich nennen, was ihr aufgrund von deren Privatsphäre erst möglich war, als diese gestorben waren. Die Ich-Erzählerin besucht ihre alte Patentante im Heim, wo sie dann und wann Fragmente aus Martls Leben erhält, die ihr helfen, das Leben ihrer Tante zu konstruieren. Über viele Jahre, in denen Tante und Nichte sehr regelmäßig telefonierten, hat sich zwar ein recht konkretes Bild entwickelt, doch die Nichte ist auch bis kurz vor Martls Tod erstaunt darüber, welche Details noch ans Tageslicht kommen. So entsteht ein genaues, von viel Sympathie getragenes Porträt einer scheinbar unscheinbaren Frau, die immer im Schatten ihrer Schwestern und unter der Fuchtel ihrer Eltern stand. Doch Martl hat etwas aus ihrem Leben gemacht. Obwohl sie bis zum Umzug ins Heim immer im Elternhaus gelebt, ihren teilweise jähzornigen und bösartigen Vater gepflegt hat, konnte sie sich ein eigenes Leben schaffen. Sie wurde Volkschullehrerin, machte den Führerschein, kaufte sich ein Auto. Auch wenn sie oft zurücksteckte, weil sie den Schwestern oder den Eltern helfen musste, auch wenn sie sich manches Mal als das hässliche Entlein fühlte oder nicht die Weltläufigkeit und Grandezza einer Rosa (Ursulas Mutter) hatte, war Martl diejenige, die in einer Zeit, als Frauen im Auto nur den Beifahrersitz benutzten und kein eigenes Bankkonto hatten, all das für sich realisierte.
Ursula März hat einen ruhigen und unprätentiösen Roman geschrieben, Tante Martl vermeidet gekonnt komische und auf schnellen Effekt zielende Episoden, vielmehr beschreibt dieses etwas nüchtern wirkende Frauenbild wie eine leise Heldinnengeschichte ein zwar über weite Strecken nicht wirklich selbstbestimmtes, doch aber ein bewusst gelebtes Leben. Bei einem der häufig von einleitendem Stöhnen und Seufzen geprägten Telefonate hat die Nichte auch tatsächlich etwas über einen Mann in Tante Martls Leben erfahren.
Ursula März, die über diese Biografie ihrer Tante auch einen Zeitroman von den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bis beinahe in die Gegenwart geschrieben hat, ist mit Tante Martl weit entfernt von einem Heimatroman der kitschigen Art, ihr Buch ist eine sehr gelungene Annäherung an einen nahen Menschen und eine literarische Verbeugung vor einer Lebensleistung.
(Quelle: Literaturkritik.de)
Pressestimmen
„Nie wurde über ein Frauenleben in den 60er-Jahren empathischer geschrieben als hier.“ (Myself)
„Tolle Charaktere und jede Menge Situationskomik machen das Buch von Ursula März zu einem köstlichen Lesevergnügen.“ (Die Rheinpfalz)
„Ein tolles Buch, ein witziges Buch. Mit einem Ende, das umhaut.“ (Madame)
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Veröffentlicht: 11. Oktober 2020
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